CHARTKOMMENTAR

Immer wieder Schwankungen zwischen Gier und Angst

Vergleich 1960, 1932 mit heute

Dr. Hans-Dieter Schulz


1960 erreichte der deutsche Aktienmarkt einen Hochpunkt, nachdem er seit 1949 in mehreren Zyklen um 100, 115, 130 und in der Endphase sogar 330 Prozent - jeweils vom vorhergehenden zyklischen Tiefpunkt - gestiegen war. Damals hatte Ludwig Erhardt, der legendäre Minister des deutschen Wirtschaftswunders, die geniale Idee, aus dem deutschen Volk ein Volk von Volkskapitalisten zu machen. VEBA, Preussag und die "Volksaktie" VW kamen an den Markt. VW wurde zu 280 DM mit Sozialrabatt und zu 350 DM für jederman emittiert. Der Kurs stieg auf 1.120 DM.

Damals - wie in den Jahren vor 2000 - glaubten viele, man könne mit Aktien ohne Arbeit mühelos Geld verdienen. Dann kam die lange Baisse-Phase, die sich unter Schwankungen bis 1982 hinzog. Nachdem der Kurs von VW und auch die Kurse vieler anderer Aktien unter die Einstandskurse dieser neuen "Volksaktionäre" gefallen waren, haben viele enttäuscht ihr Engagement aufgelöst und nie wieder in ihrem Leben eine Aktie angefaßt.

Damals gab es den Begriff Finanzanalyse noch nicht. Wir sprachen von "Security-Analysis" - ein Begriff den mein Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt aus Amerika mitgebracht hattte. Daraufhin entdeckten die Amerikaner, dass deutsche Aktien ja wesentlich preiswerter waren als amerikanische, gemessen an den damals gerade entdeckten Kurs-Gewinn-Verhältnissen und dem Cash-Flow. Sie kauften unlimitiert und trieben die Kurse nach oben.

Ein Berufsleben lang habe ich dafür gekämpft, dass diese Börsenphase von 1960 bis 1982 nie wiederkehrt - vergeblich. Fast alle Banker, Journalisten und die überwiegend blutjungen Finanzanalysten haben Marktteilnehmer in Aktien getrieben als sie schon maßlos überbewertet waren. Die Folge ist, dass wir heute eine ganz ähnliche Situation haben wie damals. Es wird wieder eine Generation brauchen, bis in Deutschland eine echte Aktienkultur aufkommt und Unternehmen wieder im nennenswerten Umfang am Markt Kapital aufnehmen können.

In diesem Kommentar, den ich jahrelang schrieb, habe ich bei der Emission der dritten Tranche, selbige mit der "Volksaktie" VW vor und nach 1960 verglichen. In der Nähe des Hochpunktes der Telekom im Juli 2001 habe ich ebenfalls mit dem Kursverlauf von VW verglichen. Ich habe die stürmische Aufwärtsentwicklung des japanischen Aktienmarktes mit dem darauffolgenden Niedergang mit dem deutschen Markt in Wort und Bild verglichen. Fast alle Chart- und Fundamentalanalytiker, die sich ja "Analysten" nennen, lagen schief. Ich war - zugegeben zu früh aber besser entgangene Gewinne als riesige Vermögensverluste zu erleiden, Vermögen, das in vielen Fällen der Alterssicherung dienen sollte. Es ist depremierend als "Rufer in der Wüste" vor den von Gier getriebenen Höhenflügen der Märkte zu warnen und kein Gehör zu finden.

Jetzt, wo in Deutschland sogar die Blue Chips im DAX 50 Prozent verloren und die der Nasdaq Composite und der Nemax um 75 und 95 Prozent gefallen sind, sprechen Analysten und Fondmanager davon, "Cash hochzufahren". Auf gut deutsch würde man das verkaufen nennen.

Wie aber geht es nun weiter? Die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine weitere Abwärtsphase - wie nach 1932 - oder eine Seitwärtsphase - wie 1960 - 1982 - bekommen, ist extrem hoch, allerdings unter starken zyklischen Schwankungen. Das ist meine mittelfristige Erwartung. Kurzfristig dürfte es einen kräftigen "Push" nach oben geben, denn der Markt ist extrem überverkauft.

Allerdings gibt es zwei Risiken: Die Gefahr ist gegeben, dass wir uns längst in einer Phase der wirtschaftlichen Depression und einem dritten Weltkrieg befinden. Der Terrorismus hat eine völlig neue Dimension erreicht und wird noch über Jahre die internationalen Kapitalmärkte belasten. Hinzu kommt kurzfristig das Risiko Brasilien. Sollte Gewerkschaftsboss Lula die Wahlen gewinnen, nachdem er mehrfach erfolglos kandidiert hatte, dürfte er seine Ankündigung wahr machen, die brasilianischen Auslandsschulden nicht zu bezahlen. Die bloße Ankündigung hat die Zinsen am kurzen Ende ja bereits auf 30 % hochgetrieben. Hinzu kommt der amerikanische Independent day an dem man mit der erhöhten Gefahr von Terroranschlägen rechnet.

Fazit: Wer Mut hat, kauft sofort - für kurze Zeit. Wer risikoscheu ist, lässt die Finger davon, denn mittelfristig werden wir uns auf eine Seit-/Abwärtsbewegung unter starken zyklischen Schwankungen einstellen müssen. Gold und festverzinsliche Wertpapiere von Unternehmen oder Staaten mit hoher Bonität dürften in der näheren Zukunft der "save harbour" sein.


erstellt am 29.06.2002